Etwa 20 Prozent aller Frauen in Österreich sind körperlicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt. Jede Dritte davon im eigenen Haushalt. Das ergibt eine Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte FRA aus dem Jahr 2014. „Bei vielen Frauen ist beides oft nicht voneinander zu trennen“, weiß die Sozialarbeiterin, studierte Afrikanistin und Sozialmanagerin Hannah Gasser. „Darüber hinaus, sind die Betroffenen meist so verschreckt und traumatisiert, dass sie Hilfe gar nicht in Anspruch nehmen. Es fehlt ihnen das Vertrauen, ihre Geschichte zu erzählen.“
Um das Vertrauen aufzubauen und die Frauen Schritt für Schritt in die Gesellschaft zu integrieren, hat die Wienerin und ehemalige Waldorf-Schülerin den Verein FOOTRPINT gegründet. Die Idee dazu ist im Rahmen ihrer Diplomarbeit, rund um das Thema “Zwangsprostitution afrikanischer Migrantinnen in Österreich” entstanden. Mit ihrem Team bietet sie Betroffenen Gratis-Deutschkurse, Sozial- und Rechtsberatung, sowie Sport- und Tanzkurse an.
Im internationalen Menschenhandel gilt Österreich als beliebtes Ziel- und Transitland. 80% der Betroffenen sind Frauen, so das Bundeskriminalamt. Sie werden zwangsprostituiert, in der Ehe sexuell ausgebeutet, oder als moderne Sklavinnen im Haushalt, beziehungsweise anderen Tätigkeiten wie Landwirtschaft, Reinigung oder Tourismusindustrie gehalten. Laut offizieller Zahlen arbeiten über 7.000 Zwangsprostituierte in rund 400 Wiener Etablissements. Über 90% der Betroffenen sind Ausländerinnen. Wie viele Frauen tatsächlich Opfer von Menschenhandel sind, das weiß niemand.
Hannah, du hast FOOTPRINT aus Wut gegen das System gegündet. Du hast in deiner Diplomarbeit rund um Zwangsprostitution afrikanischer Migrantinnen in Österreich einiges in Non-Profit-Organisationen, Frauen- und Schutzhäusern gesehen. Was genau wolltest du anders machen?
Sehr viele der Angebote waren Opfer bezogen. Den Frauen wurde ein Hilfsangebot förmlich aufgedrückt. Das mag für viele passen, für viele aber auch nicht. Einige der Betroffenen erzählen nicht sofort ihre Geschichte, weil schlicht und einfach das Vertrauen fehlt. Es gab keinen Ort, wo die Frauen einfach nur hingehen konnten, um einen Kaffee oder Tee zu trinken. Einen Ort, an dem nicht sofort ein spezielles Angebot vorhanden war. Ein Ort, wo sie sich die Sorgen von der Seele tanzen konnten, ohne sofort ein Therapieangebot bekommen zu haben. Ein niederschwelliger Ort wie ein Jugendzentrum. Genau das wollen wir bieten. Bei uns gibt es Sport- und Tanz-Angebote, aber auch Deutschkurse. Uns geht es aber nur darum, die Lebensqualität der Frauen zu verbessern. Egal, an welchem Punkt ihrer Geschichte sie sich gerade befinden.
Wie hat sich euer Angebot entwickelt?
Wir haben voneinander gelernt. Besonders die Klientinnen, also die Betroffenen, haben uns gezeigt, was gewünscht wird und was nicht. Anfangs dachte ich zum Beispiel, dass Selbstverteidigungskurse sicher funktionieren würden. Gerade die sind gar nicht angekommen. Die Frauen wollten nichts mit Gewalt zu tun haben. Erst jetzt nach drei Jahren kam, lustigerweise von den Frauen selbst, die Frage nach Selbstverteidigungskursen. Während wir früher mehr Sport-Angebote hatten, haben wir aktuell vor allem Tanz- und Mutter-Kind-Kurse im Programm. Wir haben viele Klientinnen mit Kindern, und haben gemerkt, dass die Beziehung zu diesen ebenfalls problematisch ist. Unter anderem deshalb, weil sich die Frauen zu wenig Zeit für sich nehmen. Wir lernen also ständig dazu. Unsere Projekte entstehen daraus, dass wir feststellen, was den Frauen fehlt. Mittlerweile teilen sie uns das auch mit, und wir können dementsprechende Angebote einbauen.
Du hast deine Organisation mit Anfang 20 gegründet. Oft werden gerade junge Menschen nicht für ernst oder voll genommen. Wie hast du das erlebt?
Ja, wir haben lange gekämpft, um im Sozialbereich anerkannt zu werden – in der Zwischenzeit ist uns das gelungen. Andere Organisationen haben erkannt, dass wir seriös arbeiten. Anfangs wird man streng beäugt. Gerade, wenn man ein junges Team hat, neue Methoden einsetzt und andere Ideen verwirklicht, wie Charity-Dinner oder unsere Mitgliedschaften. Darüber hinaus hatten wir auch Männer im Team, was in diesem „Frauenbereich“ nicht üblich war. Da wird man schräg angeschaut und muss sich beweisen. Sicher hatte ich oft das Gefühl, nicht für voll genommen zu werden. Das war mir egal, ich habe weitergemacht. Was bleibt dir auch anderes über?
Jeder hat Angst, sein Stück vom Kuchen abgeben zu müssen
Viele trauen sich nicht, einen solchen Schritt zu setzen: Was möchtest du Menschen mitgeben, die eine Idee haben? Was ist notwendig, um tatsächlich nicht nur zu träumen und zu reden, sondern zu tun?
Das Wichtigste ist, nicht aufzugeben. Gerade anfangs werden einem viele Steine in den Weg gelegt. Ich habe das Gefühl, dass andere Organisationen und Menschen versuchen, Ideen zu vernichten. Kein Wunder, die Konkurrenz ist groß, auch im Sozialbereich. Jeder hat Angst, sein Stück vom Kuchen abgeben zu müssen. Das ist schade, aber von dem sollte man sich nicht beirren lassen. Ob eine Idee ankommt oder nicht, das sieht man ohnehin an der Zielgruppe. Auch meine Ideen kamen nicht immer an – siehe Selbstverteidigungskurs. Aber dann adapiert man diese Idee und macht weiter. Wichtig ist in jedem Fall ein Team, das hinter einem steht und immer wieder Halt gibt. Jeder hat Tiefpunkte. Beispielsweise, wenn man herbe Rückschläge erntet, wochenlang Förderanträge schreibt, und dann auf 35 ausgearbeitete Seiten, einen Absage-Satz bekommt. Es ist wichtig, Leute zu haben, die dich weiter motivieren.
Frauenhandel, Zwangsprostitution – all das sind keine schönen und einfachen Themen: Wie bleibt man mutig und positiv? Was gibt Kraft?
Man bekommt doch viel zurück. Wir sind nicht nur auf die Probleme der Frauen fokussiert, sondern auf deren Lebensqualität. Es gibt Klientinnen, die kommen seit zweieinhalb Jahren. Sie bringen uns Essen oder Blumen mit, geben zurück, was sie können. Bedanken sich tausendmal. Außerdem rufen mittlerweile viele Einrichtungen wie Frauenhäuser oder Flüchtlingsheime an, und erkundigen sich, ob wir wieder Deutschkurse für Frauen anbieten. Wir bekommen auch auf unseren Charity-Veranstaltungen und auf Facebook viel positives Feedback.
Was sind die großen Probleme, die sich für Betroffene auftun?
Bei allen geht es um die Frage, wie es weitergeht. Wie sie in die Eigenständigkeit gelangen, wie sie aus dem Loch, in dem sie sich befinden, wieder rauskommen. Es geht um die Fragen nach Arbeit, nach einem Kindergartenplatz, und besonders darum, nicht allein sein zu wollen oder zu können, und nicht zu wissen, an welche Stellen man sich wenden kann.
Mein Tipp: Nimm es mit Humor. Ich lache lieber, als zu weinen.
Was hast du durch all das für dich und dein Leben gelernt?
Man muss flexibel sein! Anfangs dachte ich auch, dass alle meine Pläne klappen, aber das funktioniert nicht. Man muss auch ein „das geht nicht“ in Kauf nehmen, in Sachen Gelder, Finanzierung, Angebote, Team. Wichtig ist auch, ein starkes Team um sich zu haben. Leute, die gutes Feedback geben. Und man muss auf sich selbst aufpassen. Viele Menschen, die im Sozialbereich tätig sind, geben zu viel von sich selbst her. Um für andere stark sein zu können, braucht man aber auch Kraftquellen für sich selbst. Wenn man schwach wird, ist es wichtig, einen Schritt zurückzutreten, für eine Zeit die Ruhe zu suchen und aufzutanken, damit man dann wieder mit aller Energie weitermachen kann. Du hast mehr Kraft, als du glaubst. Mein Tipp: Nimm es mit Humor. Ich lache lieber, als zu weinen.
Du bist seit Anfang Jänner für ein paar Monate in Karenz und hast die Leitung übergeben: Wie einfach war dieses Loslassen deines „Babys“? Wie stark bist du noch involviert, und willst du zurückkehren?
FOOTPRINT ist und wird immer Teil meiner Familie und meines Lebens sein. Das Ganze war lange vorab geplant und vorbereitet. Als mein Mann und ich uns dafür entschieden haben, ein Pflegekind aufzunehmen, habe ich mit meinem Team im Verein abgesprochen, wer welche Aufgaben übernimmt. Jeder und jede Einzelne im Team hat mich dabei von Anfang an voll unterstützt. Glücklicherweise hat Gabi, die seit der Gründung an dabei war, und die ich seit dem Sandkasten kenne, den größten Teil der Aufgaben übernommen. Auch andere haben geholfen, damit ich mich für zwei Monate auf die Kleine konzentrieren kann. Ich habe grundsätzlich volles Vertrauen, und mache mir überhaupt keine Sorgen. Ich erhalte regelmäßige Updates, bin immer in CC (Adressverteiler eines Mails, Anm.), damit ich weiß, was sich tut. Ich bin mit vollem Vertrauen gegangen. Aber zugegeben, das ist etwas, das ich lernen musste.
Welche Werte möchtest du als Neo-Mama deinem Kind mitgeben?
Egal, ob Mädchen oder Burschen, für mich ist es wichtig, dass das Kind mit dem Gefühl aufwächst, dass jeder Mensch gleich ist. Wir haben in unserer Familie jetzt auch drei verschiedene kulturelle Hintergründe, drei verschiedene Religionen, und es funktioniert im Miteinander. Wenn man das lebt, gibt man den Kindern meiner Meinung nach schon viel mit. Manchmal hat der eine mehr, der andere weniger. Wenn man gerade derjenige ist, der mehr hat, dann kannst du denjenigen helfen, die weniger besitzen. Diese Botschaft möchte ich allen mitgeben. Ich bin der Meinung, dass jeder helfen kann: Nicht jeder hat so wenig Kraft, wie die meisten Menschen glauben. Man kann alles schaffen und leisten – ich war bei der Caritas beschäftigt, habe ehrenamtlich den Verein geleitet, arbeite an meiner Doktorarbeit, habe an einem Roman gearbeitet und bin jetzt noch Mutter. Es geht sich alles aus. Das zeigen auch die unterschiedlichen Menschen im Verein, und jeder hat eben mal mehr Kraft, mal weniger. Der Sinn des Lebens kann jedenfalls nicht sein, nur auf sich selbst zu schauen. Da kommt man nicht weiter. Man muss auch auf andere achten.
Wie definierst du Helden? Was macht für dich einen Helden aus?
Schwierig. Ich verwende das Wort nicht täglich, nur wenn ich aus Kinderbüchern vorlese. Für mich sind Helden, die Menschen, die eine besondere Kraft aufbringen – von Robin Hood bis Ute Bock. Es gibt verschiedene Helden.
Siehst du dich selbst als Heldin?
Ich glaube nicht, dass sich jemand selbst als Held sieht. Ich sehe mich jedenfalls nicht als einen. Ich habe das Glück, dass ich viel Kraft, und ein Steh-auf-weibchen-Syndrom habe, das mich manchmal ein bisschen mehr ertragen lässt als andere. Es gibt mir unglaublich viel, anderen zu helfen. Da kann ich gut auftanken.