Ausgehen, gemeinsam kochen, am Sonntag mit Freunden zum Brunch – in einer Stadt alleine zu sein, das ist so gut wie unmöglich. Denkt man. Doch es braucht nicht viel, um sich unter Millionen Menschen einsam zu fühlen. Mag man auch noch so viele Leute kennen und noch so viele Menschen seine „Freunde“ nennen – unter all der vorherrschenden Anonymität und dem ständigen Nebeneinander-vorbei-Laufen, kann sich schon mal das Gefühl der Isolation breitmachen.
Jedes Jahr, zur Vorweihnachtszeit, steht auf der Mariahilfer Straße ein Augustin-Verkäufer mit Tannebaum-Hut. Singend – mit einem selbstgereimten Lied, das irgendwie an das uns allen bekannte Oh-Tannenbaum erinnert. So versucht er, den vorbeieilenden Menschen ein bisschen Fröhlichkeit mit auf ihren hektischen Weg von Geschäft zu Geschäft zu geben und seine Zeitungen zu verkaufen.
Jedes Jahr, zur Vorweihnachtszeit, müsst ihr wissen, kann ich mit einem Besuch meiner Mutter in Wien so sicher rechnen, wie mit dem Amen im Gebet. Und ich verstehe sie. Wer liebt Wien in der Adventzeit nicht? All die gut duftenden Maroni-Stände, der verführerische Punschgeruch der Adventmärkte und die kitschig-schön beleuchteten Straßen.
Pflicht, dass auch wir einmal Teil dieser riesigen, anonymen Masse werden
Und auch wenn das Bewegen unter Tausenden von einkaufswütigen Menschen nicht unbedingt zu unseren Vorlieben zählt, ist es dennoch Pflicht, dass auch wir jedes Jahr einmal Teil dieser riesigen, anonymen Masse werden.
Und jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit, laufen wir dann beinahe ebenso panisch von Geschäft zu Geschäft, um noch rechtzeitig die letzten Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Doch bei all der vorherrschenden Hektik nehmen wir uns jedes Mal wieder Zeit, um bei dem bereits erwähnten Augustin-Verkäufer zu halten und ihm eine seiner Zeitungen abzukaufen. Bei ihrem letzten Besuch hat sich meine Mutter kurz mit ihm unterhalten. Zum Abschied wünschte sie ihm, er könne trotz allem ein halbwegs schönes Weihnachtsfest erleben. Seine Antwort hätte keine klarere Botschaft haben können:
„Wie kann man ein schönes Weihnachtsfest haben, wenn man alleine ist?“
Dass man sich einsam fühlt, kann oft schneller gehen, als einem persönlich lieb ist. Ehrlich gesagt glaube ich, schon jedem von uns ist einmal so ergangen. In einer Stadt mit knapp zwei Millionen Einwohnern zu leben, ist noch lange keine Garantie nicht allein zu sein, oder sich an machen Tagen nicht zumindest danach zu fühlen.
Ich wohne mittlerweile seit fast 4 Jahren in Wien. Und ja, ich liebe diese Stadt. Auch diese gewisse Anonymität, die man sich hier bewahren kann. Zumindest manchmal kann sie von großem Vorteil sein. Ich wage zu behaupten, dass ich nicht die einzige bin, die diese Seite unserer verschrobenen, aber liebenswerten Großstadt zu schätzen weiß. Alleine schon, wenn ich an diverse Telefongespräche in der U-Bahn denke, die ich natürlich rein zufällig, das eine oder andere Mal mitbekommen habe.
Ein Mann, der seinem Gesprächspartner am Telefon gestand, dass er seine Frau betrügt
Diese eine Situation, die mich heute noch zum Schmunzeln bringt: Ein Mann, der seinem Gesprächspartner gerade am Telefon gestand, dass er seine Frau betrügt. So quasi nach dem Motto „Egal ob ich es hier erzähle, oder zu Hause, kennt mich ja sowieso keiner.“ Und zeitgleich muss ich dabei immer an die Worte meiner Mutter denken. Die Worte, die ich zu hören bekomme, wenn ich unterwegs von ihr angerufen werde: „Judith, willst du mich nicht zurückrufen, wenn du zu Hause bist? Sonst bekommt jeder mit, was wir reden.“ Nein Mutter, ich muss nicht warten, bis ich in meinen eigenen vier Wänden bin, um dir zu berichten was mir heute alles so passiert ist. Sei es noch so peinlich oder verrückt. Wenn dieser Mann in der U-Bahn, am Telefon, lautstark und unter dutzenden von gespitzten Ohrenpaaren erzählen kann, dass er eine Affäre hat, dann denke ich, kann ich dir auch von meinen Geschichten erzählen.
In Wahrheit interessiert sich niemand für die Belange des jeweils anderen
Der banale Grund dafür? In Wahrheit interessiert sich niemand für die Belange des jeweils anderen. In Wahrheit bleiben die Menschen, die mit dir in der U-Bahn oder der Straßenbahn fahren, die im Kaffeehaus am Tisch nebenan sitzen oder die im Supermarkt an der Kasse vor dir warten, immer Fremde. Und sie alle wiegen sich im Schutze der Anonymität. So schön das Anonym-Sein auch sein kann, so schnell führt es früher oder später zu der Frage: „Bin ich einsam?“.
Persönlich würde ich nicht behaupten, einsam zu sein. Ich habe in dieser Stadt, die mittlerweile meine Heimat geworden ist, Menschen gefunden, die die Bezeichnung „Freunde“ mehr als verdienen. (Wenn man das Wort „verdienen“ in so einem Zusammenhang überhaupt verwenden darf.) Dennoch gibt es Momente, in denen auch ich mir die Frage nach dem Alleinsein stelle. Immerhin sind meine Familie – und somit meine Wurzeln – mehrere hunderte Kilometer entfernt. Mal eben vorbei schauen? Das spielt es nicht.
Es gibt kaum einen Tag, an dem ich nicht an der Hauptuniversität und dem Schottentor vorbei komme. Und jedes Mal sehe ich dort diese eine Frau: Lange struppige Haare, in eine Decke gewickelt und ihre paar Habseligkeiten stets an ihrer Seite. Hin und wieder gesellen sich andere Obdachlose zu ihr und sie starten diese typischen Gespräche, geprägt von Alkohol. Den Rest der Zeit scheint sie für sich und alleine zu sein.
Auf der Straße noch „Grüß Gott“ sagen
Diese Bilder regen mich jedes mal aufs Neue zum Nachdenken an. Zum Nachdenken über die Frage nach dem Alleinsein. Und zum Nachdenken über die vermeintlichen Vorteile der Anonymität. Für mich persönlich birgt diese Großstadt-Anonymität zwei Seiten in sich: Einerseits gibt es nichts schöneres, als mit dem Gedanken durch die Straßen zu wandern, beinahe alles tun und lassen zu können, weil einen ja sowieso niemand kennt. Doch andererseits ist es ein mindestens genauso schönes Gefühl zu wissen, in ein kleines Dorf zu kommen, wo jeder jeden kennt und wo man, wenn man sich auf der Straße begegneten, noch „Grüß Gott“ zu einander sagt.