„Jeder kann die Welt mitgestalten“

Anna Wexberg-Kubesch kämpft mit ihrem Projekt “NEVER/FORGET/WHY” gegen das Vergessen der Gräueltaten in NS-Konzentrationslagern. 15.000 Karten hat die 54-jährige Wienerin gekauft, gestempelt und schickt diese seit Herbst 2014 um die Welt. Jede einzelne Karte steht für das Leben eines Kindes bzw. eines Jugendlichen, die damals im KZ Theresienstadt ihr Leben lassen mussten. Ein Gespräch über die Notwendigkeit des Erinnerns.

Anna, du bist Psychotherapeutin, hast Geschichte studiert – wie bist du zu deinem Projekt “NEVER/FORGET/WHY” gekommen?

Das war ein langer Prozess. Ich beschäftige mich schon sehr lange mit der Schoa (nationalsozialistischer Völkermord an den Juden Europas, Anm.). Innerhalb der Schoa-Forschung blieben allerdings die jüdischen Kinder immer unbeachtet. Das hat mich dazu gebracht, mich vor allem den 15.000 Kindern und Jugendlichen zu widmen, die in Theresienstadt ermordet wurden. Außerdem interessiert mich dieser Bereich zwischen Psyche, Zeitgeschichte und Politik. Ich habe angefangen zu forschen, wie die kollektive Geschichte, das Leben, die Politik auf das Leben der einzelnen Menschen wirken.

Kannst du den Hintergrund etwas genauer erklären?

Wir sprechen über das Ghetto Theresienstadt. Eine alte Garnisonsstadt nördlich von Prag, in der bis 1939 Soldaten und ihre Familien gelebt haben. Als die Deutschen diesen Teil der damaligen Tschechoslowakei besetzt haben, haben sie die dort ansässigen Menschen vertrieben und ein Ghetto für Juden errichtet. Im Gegensatz zu anderen Lagern wie beispielsweise Auschwitz, hatte Theresienstadt einen Sonderstatus. Dieses Ghetto wurde von den Nazis dazu verwendet, um jüdische Menschen festzuhalten, und später weiter in Vernichtungslager deportieren zu können. Darüber hinaus wurde Theresienstadt in der Propaganda verwendet. Gegenüber der Öffentlichkeit sagte man, es sei ein Ort für alte jüdische Menschen, ein Erholungsheim. Sogar einen Propagandafilm gab es dazu. Die Propaganda hat funktioniert. Besonders interessant ist dabei für mich, dass wir bis heute dieser Diktion verhaftet sind. Viele glauben noch immer, dass Theresienstadt “besser” war. Doch das stimmt nicht. Darum ist es mir wichtig, dieses Tarnen und Täuschen aufzudecken und zu zeigen, wie viel wir nach wie vor aus der Geschichte lernen können. In Theresienstadt waren über 15.000 Kinder und Jugendliche interniert, von 0 bis 18 Jahren. Gerade einmal 150 davon haben überlebt.

Das heißt in erster Linie geht es dir darum, dass die wahre Geschichte von Theresienstadt bekannt wird?

Genau. Eigentlich ist mein Projekt ein Erinnerungsprojekt. Wobei ich mich sehr freue, dass es mittlerweile weit darüber hinaus geht. Die Menschen werden selbst aktiv. Schulen kommen auf mich zu, in denen Lehrer meine Karten für ihren Unterricht verwenden. Das bedeutet, dass sich viele Menschen mit dem Thema auseinandersetzen, und ihr Wissen an andere weitergeben.

Warum sind es ausgerechnet Karten?

Das Kartenformat bietet ein überschaubares Platzangebot für die Botschaften, die die Menschen vermitteln möchten. Sollte jemand mehr Platz benötige, kann er natürlich weitere Karten gestalten. Ich denke aber, dass ein größeres Format abschreckend sein würde. Man kennt das ja: eine leere A4-Seite zu füllen wirkt auf den ersten Blick überfordernd. Außerdem war die Idee, dass die Karten von anderen beschrieben und zurückgeschickt werden. Mittlerweile kommt die eine Hälfte mit Text zurück, und die andere wird, sowohl von Kindern als auch Erwachsenen, künstlerisch gestaltet. Man kann bei der Kartengestaltung nichts richtig und nichts falsch machen. Alles was einen zu dem Thema bewegt, kann auf der Karte verewigt werden.

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Inwieweit beschäftigen sich die Menschen, die die Karten bestellen, mit dem eigentlich Thema Theresienstadt?

Es gibt viele Menschen, die sich dadurch erst bewusst damit beschäftigen, und sich auch mit der eigenen Familiengeschichte auseinandersetzen.

Wie fällt das Feedback aus?

Bis jetzt gab es durchwegs nur positive Rückmeldungen. Ich war am Anfang sehr unsicher, und dachte mir, vielleicht bin ich größenwahnsinnig. Ich wollte ja von Beginn an alle 15.000 Karten alleine stempeln, und bin diesem Vorhaben treu geblieben. Ich gestalte die Vorderseite jeder Karte selbst. Mit der Zeit merkte ich, dass ich anscheinend etwas angestoßen hatte, das viele interessierte und berührte. Es gab Bedarf, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Meine Freundin Brigitta Höpler hat es so definiert: Ich bin die Raumgeberin. Und so fühle ich mich auch: wie die Mama des Projekts (lacht). Jeder kann mitmachen, es gibt keine Zensur, keine Einschränkung. Es gibt nur eine Aufgabe: die Karten an mich zurückzuschicken.

Kommen die Karten auch retour?

Im Moment sind 3.000 Karten unterwegs bei Menschen, die ich nicht kenne. Das ist eine Vertrauensache. Aber dieses Vertrauen habe ich.

Du glaubst also an das Gute im Menschen?

Ja, schon. Ich übergebe die Karten am liebsten persönlich. Ich komme mir schon vor wie eine Dealerin (lacht). Ich habe immer Karten mit dabei. Ich habe auch eine Facebook-Gruppe in der alles dokumentiert wird. Das gibt dem Ganzen ein eigenes Gefühl von Gemeinsamkeit.

Meiner Meinung nach sollte man es keiner politischen Gruppierung oder Partei überlassen, sich um das Vergessen und Erinnern an die NS-Zeit zu kümmern.

Wie politisch darf dein Projekt überhaupt werden?

Prinzipiell ist es ein Projekt, das sich mit Menschenrechten und Anti-Rassismus beschäftigt. Es ist jeder eingeladen mitzumachen, der sich mit diesen beiden Punkten identifiziert. Insofern ist es politisch, aber es geht nicht um eine parteipolitische Position. Meiner Meinung nach sollte man es keiner politischen Gruppierung oder Partei überlassen, sich um das Vergessen und Erinnern an die NS-Zeit zu kümmern.

Warum ist es deiner Meinung nach so wichtig, das Thema rund um Konzentrationslager und NS-Zeit nicht zu vergessen? Es gibt viele Stimmen die sagen, das liegt jetzt Jahrzehnte zurück und wir sollen in die Zukunft blicken.

Ich glaube, das ist sehr stark im Kontext der Geschichte zu sehen. Österreich hatte die Tradition, dass nach 1945 sehr lange geschwiegen wurde. Österreich sah sich als Opfer und konzentrierte sich nur auf den Aufbau. Das klappte auch gut und wir leben seit Jahrzehnten in Frieden. Aber mindestens zwei bis drei Generationen haben nicht gelernt, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Es gab einfach keine Worte und keine Sprache dafür. Meine Meinung ist, dass erst im Waldheim-Wahlkampf eine Kultur des vorsichtigen Fragens und Sprechens entstand. In meiner Arbeit als Psychotherapeutin merke ich, dass es wichtig ist nach vorne in die Zukunft zu schauen. Die Zukunft hat aber immer auch mit dem Hier und Jetzt, und unserer Geschichte zu tun. Die Frage ist nicht, ob wir nach hinten oder vorne schauen, sondern, was wir aus dem Jetzt machen.

Kannst du überhaupt nachvollziehen, wie es möglich ist, den Holocaust zu leugnen?

Eigentlich habe ich dafür keine Erklärung. Wenn man es versuchen möchte, dann glaube ich, dass es sehr vom Alter der Menschen abhängt. Die sehr alten Menschen, die sowohl Handelnde, Mitläufer oder Opfer waren, haben sicher andere Gründe gehabt, warum sie versucht haben das Geschehene anders darzustellen. Heutige junge Neonazis, oder Leute, die glauben damit provozieren zu können, kann ich nicht verstehen. Es gibt aber sicher Gründe wie Ausgrenzung oder gesellschaftliche Randstellung, die diese Menschen zu ihrem Verhalten motivieren. Dies zu ergründen liegt mir jedoch fern. Da bin ich keine Fachfrau.

Ich möchte mich auch gar nicht nur mit den negativen Aspekten beschäftigen. Was mich interessiert: Wie lange möchtest du die Karten auf Reisen schicken?

Ende 2017 sollen alle 15.000 Karten fertig sein. 2018 soll die große Präsentation stattfinden. Anlässlich 1938/2018.

Hat diese Zeitdauer eine bestimmte Bedeutung?

Das Projekt dauert so lange, wie Theresienstadt ein Ghetto war: dreieinhalb Jahre. Ich brauche das außerdem für meine eigene Motivation und Energie.

Foto: Niko Havranek / Helden-von-heute.at
Foto: Niko Havranek / Helden-von-heute.at
Zu den Karten: die sind alle per Hand gestempelt. Warum dieser Aufwand?

Das Stempeln war das wichtigste Machtinstrument der Schreibtischtäter! Mit Stempeln wurde über Leben und Tod entschieden. Ich habe mich bewusst auch für “altes” Papier entschieden, um eine Haptik zu erzeugen, die an die alten Aktendeckel erinnert.

Das Stempeln war das wichtigste Machtinstrument der Schreibtischtäter!

Gestaltest du selbst auch Karten?

Ja, ich arbeite das Totenbuch von Theresienstadt durch, und trage alle Namen und Daten der ermordeten Kinder ein.

Was ist dein Ziel mit dieser Aktion?

Mir war wichtig, mit anderen etwas gemeinsam zu gestalten. Ich finde es schön, wenn Menschen mit ganz neuen Ideen und Ansätzen kommen. Es freut mich, wenn ich eine Inspirationsquelle für neue und weiterführende Ideen sein kann.

Das heißt, du bist ein Teammensch?

Ich könnte das Projekt alleine gar nicht so umsetzen. Es gibt zum Beispiel immer Treffen im Café Drechsler, wo bis zu 20 Leute dabei sind. Immer neue Gesichter. Jeder bringt sich ein. Das ist wirklich toll. Man muss sich einfach nur über die Website melden. Es kann jeder mitmachen.

Spürst du einen Drang, dass sich Menschen wieder aktiv bei solchen sozialen Projekten einbringen wollen? Nimmt der Drang Gutes zu tun zu?

Ja, ich glaube es ist für viele ein Bedürfnis Teil einer Community zu sein. Bei meinem Projekt gab es zwei Rückmeldungen, die mich im Positiven nachdenklich gestimmt haben: eine ältere Frau, die gesagt hat, dass es ihr hilft sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Sie hat damals selbst erlebt, wie jüdische Nachbarskinder verschwunden sind. Es hat mich sehr getroffen, als ich gesehen habe, wieviele Menschen mit solchen Geschichten alleine sind. Außerdem wurde ich immer wieder gefragt, ob eine Institution hinter dem Projekt steckt oder durch wen es finanziert wird. Umso mehr waren die Leute begeistert, als sie hörten, dass ich es komplett privat initiiere. Man muss keine großen Organisationen und Sponsoren haben, um etwas umzusetzen. Man kann auch als Privatperson etwas auf die Füße stellen. Jeder von uns kann die Welt mitgestalten.

Foto: Niko Havranek / Helden-von-heute.at
Foto: Niko Havranek / Helden-von-heute.at
Genau unser Ansatz! Man muss keine Weltwunder erschaffen, um etwas zu bewegen. Glaubst du also, dass Menschen sich mittlerweile lieber privat zusammenschließen?

Offensichtlich. Das beobachte ich auch bei mir selbst. Wenn mich jemand anruft und von einem privaten Projekt erzählt, ist es für mich logisch, dass ich eher dieses unterstütze, als die Riesenkampagne einer großen Organisation.

Gibt es eigentlich eine Verknüpfung zwischen deinem Beruf als Psychotherapeutin und dem Projekt?

Nein, das sind zwei getrennte Welten. Aber natürlich kommt mir mein Beruf auch in vielen Gesprächen zu Gute. Vor allem in Gesprächen mit Überlebenden.

Gibt es noch Überlebende?

Es gab ja nur sehr wenige Überlebende und von ihnen leben heute nur mehr ein paar. Bevor ich das Projekt initiiert habe, fragte ich einige Überlebende, ob mein Erinnerungsprojekt für sie angemessen ist. Mir ist es wichtig zu wissen, dass der Auftritt des Projekts im Sinne der Opfer ist.

Wo auf der Welt sind deine Karten schon überall?

Also derzeit sind gerade 200 Stück in Spanien. Es gibt aber auch Karten aus Japan, Deutschland, Tschechien.

Es ist eigentlich schon heldenhaft, in dieser Welt zu überleben.

Wie definierst du den Begriff Helden?

Es ist eigentlich schon heldenhaft, in dieser Welt zu überleben. Für viele Menschen ist dies auf Grund ihrer Herkunft und ihrer Lebensumstände gar nicht möglich. Richtige Helden sind für mich Menschen, die aus eigener Motivation heraus wirklich außergewöhnliche Dinge tun.

Siehst du dich als Heldin?

Ich sehe mich nicht als Heldin. Ich habe das Glück, in einem privilegierten Land zu leben, wo ich machen kann, was mir Spaß macht. Helden sind zum Beispiel Menschen gewesen, die Verfolgte versteckt haben, und sich dadurch selbst in Gefahr gebracht haben. So etwas ist wirklich heldenhaft.

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