Für Fehler gibt es einen Radiergummi

Wer Legastheniker ist, der ist dumm” – mit solchen Aussagen kann Tamara Biedermann nichts anfangen. Als bei ihrer jüngeren Schwester Legasthenie erkannt wird, beginnt sich die ehemalige Landwirtschaftslehrerin mit der schweren Lese- und Rechtschreibschwäche zu beschäftigen. Mittlerweile ist die zweifache Mutter seit 4 Jahren als selbständige Legasthenie-Trainerin tätig. Weil die Feldkirchnerin eine ist, der selbst der größte Trubel noch zu wenig ist, hat sie vor Kurzem ein Brettspiel entwickelt, das auf die Bedürfnisse von Kindern mit Legasthenie Rücksicht nimmt.

Tamara, ist Legasthenie noch immer ein Tabu-Thema?

Ein bisschen leider immer noch. Legasthenie wird mit Dummheit gleichgesetzt. Aber echte Legasthenie ist genetisch bedingt und wird vererbt. Bei der “wirklichen” Legasthenie geht man von differenzierten Sinneswahrnehmungen aus. Die Kinder nehmen Dinge auf der Tafel ganz anders wahr. Starke Legastheniker sehen beispielsweise alles verschwommen oder die Buchstaben beginnen zu hüpfen. Dann gibt es noch die Lese- und Rechtschreibschwäche. Ein echter Legastheniker hat das ein Leben lang.

Wie unterscheidet man Legasthenie von einer normalen Lernschwäche und wie erkennt man das?

Es gibt psychologische Tests. Aber das ist sehr schwierig. Oft geht viel Zeit verloren, die man für Lerntherapien nutzen könnte – wenn Kindergartenpädagogen und Lehrer Legasthenie früher und besser erkennen könnten. Man kann unter Umständen schon im letzten Kindergartenjahr erkennen, ob es Anzeichen von Legasthenie gibt. Beim Memoryspiel kann man beispielsweise testen, wie es um das optische Gedächtnis bestellt ist.

Wenn sich das Kind bei Memory die Paare nicht merkt?

Zum Beispiel, ja. Oder bei eigenen Fehlerbilder für Kinder. Beispielsweise links ein Clown mit roter, rechts ein Clown mit grüner Nase. Das ist optische Differenzierung: wenn das Kind nicht erkennt, dass es zwei verschiedene Farben sind, kann man Rückschlüsse ziehen.

Wie gehst du bei den Tests vor?

Für mich ist eine psychologische Austestung Grundvoraussetzung. Sonst kann ich nicht seriös abschätzen, was das Kind hat. Das ist sonst ein lebenslanger Stempel. Da würde ich mir niemals anmaßen, das ohne einen professionellen Tests zu machen.

Wie reagieren Eltern auf eine solche Feststellung?

Meistens geschieht das so: Die Lehrer weisen Eltern darauf hin, dass Förderbedarf bestünde. Dann kommt es zur psychologischen Austestung. Die größte Angst vieler Eltern ist, dass das Kind als nicht intelligent eingestuft wird. Doch ein Kind kann auch überaus intelligent sein, aber eine Wahrnehmungsschwäche haben. Hier geht es nicht um Intelligenz.

Wenn man nur negative Dinge erlebt, verliert man die Freude.

Was inkludiert ein Legasthenie-Training?

Leseübungen, Textübungen und spielerische Übungen. Gerade der spielerische Zugang ist für Kinder wichtig. Legastheniker brauchen zudem dreidimensionale Beschreibungen. Ich bin eine Motivationstrainerin und motiviere die Kinder wo es nur möglich ist. Die Kinder werden besser, weil sie endlich wieder an die eigenen Fähigkeiten glauben. Egal wenn ein Wort falsch ist: Für Fehler gibt es einen Radiergummi. Wenn man nur negative Dinge erlebt, verliert man die Freude.

Kommen auch Erwachsene zu dir?

Für Erwachsene ist es viel schwieriger ihre Legasthenie zu bekämpfen – Kinder lernen schneller. In den vergangenen vier Jahren hatte ich gerade einmal zwei Erwachsene bei mir. Mit gezieltem Symptomtraining ist eine Besserung möglich.

Wann hast du dich entschieden, deinen Lehrberuf an den Nagel zu hängen und selbständig zu werden?

Das passierte zeitgleich mit meiner Karenzierung. Da ich ein Mensch bin, der immer etwas Neues machen muss, habe ich sofort nach einer Beschäftigung gesucht. Ich brauchte eine Alternative zum Muttersein. Ich habe im eigenen Haus begonnen. Ganz klein. Plötzlich kamen Anfragen über Anfragen und ich hatte eine Gruppe von 30 Kindern. Das war dann mit der Zeit zu viel. Unser Garten war bald ein Acker (lacht). Heute bin ich in einem Saal beim Hilfswerk in Feldkirchen eingemietet, wo ich Dienstagnachmittag trainiere.

Foto: Jürgen Jauth
Foto: Jürgen Jauth
Du hast es schon angesprochen, du bist Mutter und doch selbständig, weil du immer eine Herausforderung brauchst.

Ja, ich habe zwei eigene Kinder. Ich liebe sie und spiele gerne mit ihnen. Aber wenn ich den ganzen Tag nur mit meinen Kindern spielen würde, würde mich das geistig zu wenig fordern. Ich brauche die Herausforderung. Denn was ich derzeit mache erfordert viel Spontaneität.

Wie stehst du generell zum Thema Arbeit in der Karenz und arbeiten als frischgebackene Mama? Findest du das altmodisch?

Du kannst es der Gesellschaft nicht recht machen. Wenn man nur zu Hause ist heißt es, man arbeitet ja nichts. Wenn man dann 7 Wochen nach der Geburt arbeiten geht, dann heißt es plötzlich: die armen Kinder. Wie man es macht, ist es falsch. Interessanterweise ist das aber nur bei Frauen ein Thema. Es regt sich niemand über die Männer auf.

Wie sieht eine typische Woche bei dir aus?

Ich bin von Montag bis Freitag am Vormittag im Büro im Lakeside Park in Klagenfurt. Ich bemühe mich, dass ich um 8 Uhr hier bin. Um 12 Uhr muss ich schon wieder ins Gurktal, um die Kinder abzuholen (ca. 40 Minuten Autofahrt, Anm. d. Red.). Am Dienstagnachmittag und am Donnerstagnachmittag mache ich das Legasthenie-Training. Wenn sich dazwischen noch ein gemütlicher Kaffee mit Kollegen und die Beantwortung von Mails ausgehen soll, dann wird die Zeit knapp.

Du musst also in wenigen Stunden Dinge erledigen, für die andere Tage Zeit haben.

Genau. Ich muss extrem Prioritäten setzen. Ich habe meine Liste, weiß was ich machen muss. Ich habe keine Ruhe, bis das nicht abgehakt ist.

Glaubst du, dass man als Mutter automatisch zur Managerin werden muss?

Ich behaupte, dass ich als kinderlose Frau noch nicht so organisiert und leistungsfähig war. Als Mutter muss man planen können. Wie es früher auf den Bauernhöfen hieß: Ohne die Bäuerin geht es nicht. Ich plane für alle mit.

Findest du, dass die Arbeit als Mutter nicht genug geschätzt wird?

Sie wird leider gar nicht gesehen. Der Haushalt, die Kinder – das interessiert niemanden. Das ist einfach selbstverständlich. Aber wenn man Kinder, Beruf und Familie unter einen Hut bringen möchte, dann wird es schwierig, den Klischees zu entsprechen.

Was meinst du mit Klischees?

Ich habe viel um die Ohren und ich frage mich oft, ob ich das meinen Kindern antun kann. Dieses schlechte Gewissen verfolgt einen. Trotzdem kommen immer noch Menschen, die sagen: Du hast es schön, du kannst ja zu Hause sein. Das Wort Ruhe kenne ich gar nicht mehr. Jemand, der keine Kinder hat, kann ja gar nicht nachvollziehen, was das bedeutet. Ich gebe mittlerweile wenig darauf, wie mich andere bewerten. Es soll jeder machen dürfen was wer mag. Jeder soll sich verwirklichen dürfen. Ich bin als Mensch auch noch da. Nur weil ich zwei Kinder habe, bin ich nicht einfach weg. Man muss auch an später denken: Man braucht auch etwas für die Zukunft, wenn die Kinder selbständig sind.

Heißt deine Zukunft “Wortaktiv”, dein selbsterfundenes Brettspiel? Wie hast du die Zeit gefunden ein Spiel zu entwickeln?

Ich bin ständig auf der Suche nach einer erfolgreichen Traingsmethode für die Kinder. Ich wollte ein Spiel haben, das es noch nicht gegeben hat. Ich habe es eigentlich schon vor 3 Jahren entwickelt – meine Kinder haben es dan auf Herz und Nieren getestet. Irgendwann hat mich meine Nachbarin auf Förderprogramme aufmerksam gemacht.

Foto: Jürgen Jauth
Foto: Jürgen Jauth
Also ist das Spiel aus der “Not heraus” entstanden?

Absolut. Ich habe viele Spiele – aber die sind entweder zu leicht oder nach einer gewissen Zeit ausgespielt. Man muss ein Kind fördern. Unterforderung ist das Schlimmste. Ich wollte ein Spiel für alle Situationen, individuell anpassbar und bei dem ich meine Methoden kombinieren kann. Ich habe keine neuen Trainingsmethoden erfunden, sondern meine Ansätze in einem Gesellschaftsspiel zusammengefasst, das nicht nur für Legastheniker geeignet ist, sondern auch für Kinder mit normalen Leseschwächen.

Wie das Spiel funktioniert: Grob erklärt handelt es sich um Activity für Legastheniker im Schulalter. Es gibt 6 Aktionsfelder, die sich fortlaufend bis ins Ziel erstrecken – je nachdem auf welchem die Figur zu stehen kommt, müssen entweder Wörter buchstabiert, rückwärts buchstabiert, gezeigt, gezeichnet, pantomimisch dargestellt oder nach Silben geklatscht werden. Das Spiel ist je nach Niveau erweiterbar. Es können auch eigene Wörter hinzugefügt werden.

Ganz was anderes: wolltest du immer in Kärnten bleiben?

Ich habe in Wien meine Ausbildung zur Landwirtschaftslehrerin gemacht. Ich war immer jemand, der weg wollte. Ich war dann ein Jahr als AuPair-Mädchen in San Fransisco, bin aber draufgekommen, dass ich unbedingt in Kärnten leben möchte. Ich komme aus einem bäuerlichen Betrieb und bin daher ländlich geprägt. Ich bin kein Stadtmensch, sondern ich brauche die Ruhe der Natur um mich. Ich bin aber auch keine, die nur hier bleiben könnte. Ab und an muss ich dann weg. Ich denke mir, wenn meine Kinder groß sind, möchte ich wieder mehr reisen.

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Vertrittst du die Meinung, dass jeder machen kann was er will – wenn es nur probiert?

Ich bin schon immer davon ausgegangen, dass der Kopf sagt, wie es einem geht. Ich war lange Zeit selbst ein Mensch, der sich wenig zugetraut hat. Es hat lange gedauert, bis ich zu meinen Leistungen stehen konnte. Man lernt ja, sich selbst nicht zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen. Aber es geht nicht darum, auf einem Egotrip zu sein, sondern dass man auf sein Werk stolz sein darf.

Das ist genau der Punkt, der Helden von heute betrifft. Es gibt so viele Menschen, die tolle Dinge machen, aber in unserer Gesellschaft ist es noch schwierig zu diesen guten Dingen stehen zu dürfen. Aber das ist einmal mehr ein Zeichen dafür, wie viele tolle Menschen es gibt. Was sind deine nächsten Ziele?

Ich möchte von dem Spiel leben. Beim Legasthenie-Training war das schwierig, weil ich nicht so viel Kapazität für so viele Kinder habe. Ich kann nicht damit leben, meine eigenen Kinder zu vernachlässigen. Mir ist die Balance zwischen Familie und Beruf wichtig. Ich möchte zum Beispiel nicht, dass meine Kinder in den Hort gehen müssen. Ich möchte für meine Kinder da sein.

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