„Man muss von Traditionen Abschied nehmen“

In seiner Jugend hat Hans-Peter Premur bei einer achtmonatigen Autostopp-Tour nach Kinshasa erlebt, wieviel man von anderen Kulturen lernen kann. Wenig später hat er sich in Indien auf eine Suche nach dem Buddhismus gemacht; für sich gefunden hat er dort das Christentum. Heute ist Hans-Peter 53 Jahre alt, seit 27 Jahren katholischer Priester und Seelsorger der Hochschulgemeinschaft in Klagenfurt. In unserem Interview erzählt er, wie sowohl Reisen als auch Religion seine Denkweise verändert haben, und warum wir alle vom Unbekannten lernen sollten.

Wenn man meint, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben, ist man schon auf dem falschen Zug.

Hans-Peter, du bist viel herumgekommen in der Welt. Was hast du alles auf deinen Reisen gelernt?

Gerade meine erste Reise nach Afrika war für mich ein Schlüsselerlebnis. Ich habe gelernt, dass man durch die Begegnung mit anderen Kulturen viel für sich persönlich lernen kann. Ich musste meine Wünsche und Vorurteile massiv durch meine Erfahrung korrigieren. Viele Sachen stellt man sich in fremden Ländern anders vor: Man idealisiert oder malt schwarz. Wenn man meint, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben, ist man schon auf dem falschen Zug.

Und wieso hast du dich dazu entschieden, katholischer Priester zu werden?

Das ist eine sehr persönliche Frage für mich. Es ist auf jeden Fall so, dass ich mich sehr mit den Kerngedanken des katholischen Glaubens identifiziere. Das war zum Beispiel der Grund, warum ich mich zu meinem Theologiestudium entschlossen habe. Ich wollte eben das, womit ich mich so sehr identifiziere besser verstehen und kritischer betrachten.

Ist es für dich wichtig, über den Tellerrand der katholischen Kirche zu schauen?

Der Begriff ‘katholisch’ kommt aus dem Griechischen, und heißt übersetzt ‘allumfassend’. Ich rede also über eine allumfassende Kirche, in der es nicht um die Exklusion, sondern die Inklusion von anderen kulturellen Einflüssen geht. Ich kenne Menschen aus verschiedenen Orden, die zum Beispiel in Japan ‚Zen‘ studiert haben und auch Meister geworden sind. Wir können viel von anderen Kulturen und Religionen lernen: Wir können Meditation aus dem Buddhismus lernen, Yoga vom Hinduismus – Traditionen, die es so im Christentum nicht gibt. Der Horizont wird erweitert, und deshalb denke ich, dass ein inklusives Denken uns Menschen bereichert.

Der Mensch ist scheinbar nicht in der Lage, eine gesunde Distanz zu Radikalismen zu halten.

Leider kommt es heutzutage immer öfter vor, dass Menschen wegen ihrer Religion angefeindet werden. Was sagst du dazu?

Ich mache oft die Erfahrung, dass, wenn man sich selbst mit seinem Glauben exponiert, es eine unmittelbare Reaktion gibt, auch im radikalen Sinne. In Indien habe ich es erlebt, dass sich Hindus und Muslime angegriffen haben, und wir uns zurückziehen mussten, weil geschossen wurde. Der Mensch ist scheinbar nicht in der Lage, eine gesunde Distanz zu Radikalismen zu halten. Wir lassen uns da schnell mitnehmen von Strömungen und Gruppierungen. Wenn man selbst keine Meinung hat, und sich nur von anderen was sagen lässt, ist man sehr gefährdet. Es ist sehr wichtig, dass man sich weiterbildet und sich nicht nur Vorgekautes servieren lässt.

Mit Weiterbildung meinst du das Kennenlernen anderer Kulturen und Religionen?

Genau, eine kulturelle, religiöse Bildung. Ich kenne Menschen, die interessieren sich für Buddhismus, wissen aber nichts vom Christentum, oder umgekehrt, kennen nur das Christentum und sind nicht interessiert an anderen Kulturen. Das finde ich schade, weil dadurch ein anderer Prozess stattfindet: Man lernt eben nicht, dass man keine Angst haben muss, auf andere Kulturen und auf andere Menschen zu treffen. Das ist ein ganz wesentlicher Faktor.
Man baut seine Identität nicht auf, indem man seine Herkunft zementiert, sondern indem man sich auf das Fremde einlässt. Findet man nach diesem ersten Prozess der Verunsicherung wieder zu sich selbst, kommt man bei einem weiterentwickelten Ich an. Für mich bedeutet eine stabile Persönlichkeit nicht Starrheit, sondern Dynamik. Man muss seine eigene Identität aufgeben können, und sich dann wiederfinden – im Sinne des Sterbens und Werdens.

Ist es das, was du den Menschen als Priester mitgeben willst?

Genau, das will ich generell allen Menschen mitgeben. Ich habe vor Kurzem eine Predigt zum Thema Fasten gehalten, und in diesem Zusammenhang eine Reihe von religionsgeschichtlichen Personen aus dem Islam, Hinduismus, Buddhismus, griechische Antike oder Aborigines aufgezählt, und Jesus in ihre Reihen gestellt. Damit will ich weitergeben, dass es nicht nur die katholische Kirche gibt; dass ich zwar zu Jesus stehe und seinen Weg gehe, aber trotzdem auch die anderen Wege kenne und diese mit einbeziehe.

Und wie setzt du das in der Hochschulgemeinde um?

Das machen wir zum Beispiel mit Meditationskreisen, an denen christliche Meditierende, aber auch Meditierende anderer Glaubensrichtungen teilnehmen. Bei der Meditation ist das verbindende Element die Stille, wo jeder seine eigenen Methoden oder Traditionen hat. Dabei ist es uns vor allem wichtig, dass einmal nicht nur diskutiert wird: man muss auch einfach mal sein, zusammen sein. Wir versuchen in der Gruppe auch interreligiöse Gebete auf die Beine zu stellen und ein gemeinsames Ritual zu schaffen. Das ist nicht einfach, man muss es teilweise erst entwickeln, und oft gibt es keine Vorbilder. Dann sind wir gefordert, kreativ zu sein.

Foto: Jürgen Jauth
Foto: Jürgen Jauth
Denkst du, dass sich das Verständnis von Religion gerade verändert?

Ich stelle fest, dass der Atheismus vor 15 Jahren stärker war. Das Thema Religion ist kein Tabu oder Schreckensthema mehr. Religion wird wieder neu entdeckt. In den USA ist die ganze Bewegung noch stärker vertreten, in Asien auch. Ich bin vor einer Woche von meiner Vietnam-Reise zurückgekehrt, und Religion boomt dort regelrecht. Unter anderem ist die katholische Kirche dort sehr stark, ich habe viele neue Kirchen, aber auch viele neue Tempel gesehen, auch werden die alten Lehren des Konfuzius wieder hervorgeholt. Die Menschen dort wollten nicht mehr in die Vergangenheit des Vietnamkrieges schauen, sondern vielmehr in eine gemeinsame Zukunft des Nord- und Südvolkes dort. Deshalb schauen sie auf das verbindende Element der Religion.

Und wie äußert sich diese Veränderung oder Neuentdeckung von Religion bei uns?

Bei uns würde man sich eher fürchten, einen Weg in die Zukunft mit der Religion zu gehen. Dieses Wiederentdecken läuft nicht so sehr über die Kirchen. So zum Beispiel beim Pilgern oder Fasten: Europaweit pilgern die Menschen nach Santiago die Compostela, es ist aber kein christliches Thema, sondern interessiert unabhängig von der Religion. So kommt die Spiritualität auch ohne Institution wieder stärker zu den Menschen. Dasselbe gilt beim Fasten. Es ist wieder ein großes Thema geworden, nicht wegen der Kirche, sondern durch das Bewusstsein, dass Fasten was Gutes ist, und man das Thema somit wieder frei und neu entdeckt. Das spirituelle Element im Alltag kommt wieder neu auf die Menschen zu. Ich diagnostiziere das so, dass die Institutionen in dem Fall ein wenig versagt haben, aber der Inhalt auch außerhalb der Institutionen transportiert und wieder neu entdeckt wird.

Braucht denn der Mensch solche Arten der Spiritualität oder Rituale?

Ich glaube, dass der Mensch nicht ganz ohne Rhythmik existieren kann. Wenn es in einer Gruppe keine religiösen Rituale gibt, so hat man sich das auch oft politisch zum Nutzen gemacht und missbraucht. Wenn man die Religion aus den Ritualen und Traditionen herauszieht, bekommt man auf der anderen Seite immer eine Ersatzsymbolik hinein.

Sind Traditionen also eher gefährlich?

Tradition hat immer eine Doppelbedeutung: Das lateinische ‘traditio’ kann sowohl Überlieferung als auch Verrat bedeuten. Wenn man eine Tradition einfach festgefroren weitergibt, dann wird sie früher oder später eine leere Hülse, und ist nur mehr noch eine äußere Performance ohne Inhalt: Verrat. Gerade deshalb sollte es Zusammenbrüche und Krisen von Festgefahrenem geben; man muss von alten, liebgewonnenen Traditionen Abschied nehmen, denn es werden Neue entstehen oder Alte transformiert. Bei der katholischen Kirche zeigt sich dieser Prozess zum Beispiel bei den Veränderungen des Eheverständnisses und, dass dieses auch scheitern kann. Wir wollen gerade erschließen, wie wir am besten lernen, mit diesem Scheitern einer alten Tradition umzugehen.

Mit dem Ausschluss der Frauen aus dem Priesteramt und dem Pflichtzölibat bin ich nicht einverstanden.

Gibt es denn für dich auch einige Konzepte, bei denen du selbst mit der katholischen Kirche haderst?

Mit dem Ausschluss der Frauen aus dem Priesteramt und dem Pflichtzölibat bin ich nicht einverstanden. Was mich besonders stört, und wofür ich mich auch einsetze, sind die vorgegebenen Hierarchien in der Gemeindestruktur. Als Gemeindeleiter kommt nur ein Geistlicher in Frage, alle anderen haben sich ihm unterzuordnen. Ich bin für eine viel flachere Hierarchie in der Kirche. Die Elemente, mit denen ich mich nicht identifizieren kann, sind nicht Teil des Kerngedankens, des Glaubens, sondern viel mehr sekundäre Elemente, betreffend die Institution Kirche.

Was denkst du, könnte man gegen all diese starren Gedankenbilder machen?

Ich finde, man sollte sich nicht festklammern, sich nicht fürchten, sondern sich auf Bewegung einlassen. Als würde man in einen Strudel hineinfallen: Wenn du gegen den Strudel schwimmst, ersäufst du, aber wenn du dich mit ihm hinunterziehen lässt, kommst du unten heraus und kannst dich retten. Ich finde, dass wir momentan weltweit in einem Strudel sind, weil so viele Probleme und Krisenherde auftauchen. In dem Sinne heißt Bewegung, dass wir uns alle ein bisschen weiterbilden, und zum Beispiel sowohl etwas vom Christentum, als auch vom Islam wissen sollten. Ich erlebe oft Menschen mit einer vorgefassten Meinung, aber wirklich Bescheid wissen die wenigsten. Ich bin der Meinung, dass – wenn man schon indischen Tee trinkt – man sich auch mit der indischen Kultur und Religion beschäftigen sollte. Man ist aufgefordert, sich selbst zu interessieren, vor allem da ich finde, dass wir gerade in einem Prozess der Neuwerdung sind, und gegen diese Krisenherde eingehen müssen.

Zum Schluss: Wie denkst du können wir alle positiv zu diesem Prozess beitragen und ein bisschen Helden des Alltags werden?

Ich denke in diesem Prozess kann sich vieles verändern, und es können sich neue Regelungen und Dimensionen finden. Wenn wir das Friedenspotenzial des Islams, des Buddhismus, des Agnostizismus, des Christentums und anderer Traditionen erkennen, und uns auf die Essenz dieser Potenziale fokussieren, bringt uns das alle auf den richtigen Weg.

More from Florian Schauer-Bieche
Katharina Feuchtner: „Ich glaube an keine übermenschlichen Wesen, ich lebe im Hier und Jetzt.“
Die 33-jährige Oberösterreicherin Katharina Feuchtner ist im Beruf erfolgreiche IT-Projektmanagerin, privat aktive...
Mehr
0 replies on “„Man muss von Traditionen Abschied nehmen“”