Der Rabenvater

Anton Lichtenberger ist nicht nur Briefträger. Er nimmt uns einen Nachmittag lang mit in sein bewegtes Leben, erzählt von seiner besonderen Verbindung zu Rabenvögeln, seiner Liebe zur Fotografie und erklärt, warum er mit dem Rad schon halb Europa durchquerte, und dabei doch immer in Österreich blieb.

“Guten Morgen.”
“Morgen.”
Dies ist der durchschnittliche Wortwechsel, den wir frühmorgens, mehr oder minder gut gelaunt, mit unserem Briefträger führen. Falls gestern ein guter Tag war, kommt eventuell noch ein “Danke für die Post” hinzu.

Was wohl unser morgendlicher Bote noch so zu erzählen hätte, würde man ihn einmal nach seiner Geschichte fragen? Als ich zu ihm ins Auto steige, überreicht mir Anton zu aller erst eine Rabenfeder als Willkommensgeschenk. Wir fahren zum „Nordsteg“, eine Brücke, die hauptsächlich von Radfahrern und Fußgängern zur Überquerung der Donau genutzt wird.

„Schau her, da ist ein Waldstück, auf dem eine kleine Gruppe von Raben wohnt. Die sind zu dritt. In der Gruppe ist einer dabei, der hat bei mir schon einen speziellen Namen, und zwar Flachkopf. Der hat irgendwie, den anderen gegenüber, einen flacheren Schädl, warum auch immer.”

Anton pfeift eine kurze Melodie.

Die Vögel reagieren sofort, kommen näher, positionieren sich aber mit Respektabstand zu uns. Während mir Anton erklärt, dass sie immer ein wenig schüchtern sind, wenn ein Fremder dabei ist, legt er Hundefutterstücke und Erdnüsse auf die Pfeiler der Brücke. “Schau, drei sind schon da. Kann sein, dass das schon die besagte Gruppe ist, inklusive Flachkopf.”

Ich oute mich jetzt schon als Fan dieses speziellen Vogels.

“Jaja der Flachkopf ist ein ganz eigener Charakter. Wenn ich zum Beispiel Nüsse in die Höhe werfe, fangen einige ältere Rabenkrähen sie lässig aus der Luft. Flachkopf schafft das nicht. Dafür ist er viel zutraulicher als die anderen, kommt viel näher zu mir, frisst mir beinahe aus der Hand. Schwer zu glauben, dass Flachkopf ein Wildtier ist. Der hat Vertrauen und ist ein ganz besonderer. Ich kenne ihn schon seit vielen Jahren, früher hat er drüben auf der Donauinsel bei der großen Gruppe gelebt. Da kann er sich aber nicht mehr so oft blicken lassen, weil ihn die anderen oft attackieren. Er hat ja jetzt sein neues Revier hier bei den zwei anderen.

Foto: Sven Wuttej
Foto: Sven Wuttej

Raben leben also in Gruppen. “Entweder in Kleingruppen, wenn sie sich schon zu einer Familie zusammengefunden und ein Revier belegt haben, oder in einer Großgruppe, der dann lauter Junggesellen angehören.”

Zwei Krähen widmen sich bereits einem Luftkampf um Antons Futter. “Hier geht es auch viel um Revierverteidigung. Oft helfen die Jungen den Eltern, da sie bereits wissen, dass sie dieses Revier eines Tages erben werden.”

Es gibt Zeiten, in denen ich die Stille der Tiere brauche, um mich von den Menschen zu erholen, sagt Anton Lichtenberger

Der Weg über den Nordsteg ist Antons Radstrecke zur Arbeit. Er ist Briefträger im ersten Wiener Bezirk. “Wer mich sucht, findet mich in meinem Revier, dem Schwedenplatz, wo ich täglich meine Runden drehe. Ich stehe jeden Tag um fünf auf. Beim Nachhause kommen freue ich mich schon über alles auf meine Raben, bleibe manchmal bis zu einer halben Stunde bei ihnen stehen. Wenn ich hier bei den Vögeln bin, kann ich so richtig durchschnaufen und meinen Stress abladen. Es gibt Zeiten, in denen ich die Stille der Tiere brauche, um mich von den Menschen zu erholen.”

“Ich habe hier drei Gruppen, die ich betreue, wenn man das so nennen kann. Da gibt es die Donauinselgruppe, die Dreiergruppe mit Flachkopf hier, und die Piratengruppe. Der Name kommt vom Alphatier der Gruppe, das nur einen ganzen Fuß hat, am anderen fehlen ihm die Krallen. Captain Hook sozusagen.”

Anton pfeift.

“Die Vögel die du hier siehst sind übrigens keine Raben, sondern Krähen. Diese sind in drei unterschiedlichen Spezies anzutreffen: Die schwarze Rabenkrähe, die grauschwarze Nebelkrähe und die ebenfalls schwarze Saatkrähe, die jedoch durch einen hellen Schnabel gekennzeichnet ist. Letztere Art findet sich bei uns nur im Winter und ist bei keiner meiner drei Gruppen dabei. Der eigentliche Kolkrabe ist in den Alpen zuhause. Diese Art ist dann um einiges größer.

“Pass auf, wir versuchen jetzt was!” Anton läuft zum Ende der Brücke und richtet seinen Blick in Richtung eines in der Ferne liegenden Waldstücks. Ich verstecke mich inzwischen hinter einer Barriere. Wieder beginnt er zu pfeifen. Dann beginnt die Show. Das Ritual, wie er es nennt. Nicht nur vom Waldstück, sondern aus allen Himmelsrichtungen fliegen Krähen mit lautem Geschrei auf die Brücke zu und umkreisen ihren Paten, der mittlerweile Nüsse in die Luft schleudert. Die imposanten Schreihälse positionieren sich rund um Anton und warten auf die nächste Fütterung. Einige kommen dem Rabenvater dabei beeindruckend nahe. Nun marschiert Anton auf mich zu, über ihm Kreisen die Krähen und begleiten ihn auf Schritt und Tritt. Ich komme mir vor wie in Hitchcocks ‘Die Vögel’. “Ja, das hat eine Passantin auch schon mal gesagt.”

Ich erzähle Anton, dass ich einmal gelesen habe, dass Krähen so intelligent sind, Nüsse auf eine Straße fallen zu lassen und zu warten, bis Autos darüber fahren und sich die Nüsse dadurch öffnen. “Ja die sind blitzgescheit, in Japan haben sie dieses System sogar auf Ampelstraßen adaptiert, um somit der Gefahr vorzubeugen, überfahren zu werden.

Plötzlich bekommen wir erfreulichen Besuch: “Jo Flochkopf! Wos mochst’n du do?” Der spezielle Vogel hält Sicherheitsabstand. “Vielleicht hat er heut a bisserl Federn.”

“Raben und Krähen machen auch viel Blödsinn. Sie sind ja so schlau, einen Halbtag lang genügend Vorräte anzulegen, um danach den restlichen Tag ihren Freizeitbeschäftigungen nachzugehen. Diese Tatsache erklärt auch das Youtube-Video, in dem ein Rabenvogel mehrmals ein schneebedecktes Schrägdach hinunter surft.

“Andere Vögel suchen den ganzen Tag nach Futter. Die Krähen legen sich Vorräte an, und haben dann den Rest vom Tag frei und können Blödsinn machen.” Also zuerst der Anton, dann das Vergnügen.

Väterlich widmet sich Anton einem der Vögel. “Na, do schaust, wos ma da mitbrocht hom.” Er holt eine Hand voll Erdnüsse aus seiner Tasche uns wirft sie vor uns auf die Brücke.

Anton hat seine Terrasse in rabenväterlicher Fürsorge zu einem ganz besonderen Platz für seine Vögel umgestaltet. “Ich habe meinen Krähen einen Intelligenzparcours aufgebaut. Um an Futter zu kommen, muss ein Vogel beispielsweise eine Schnur, an der eine Erdnuss befestigt ist, mit dem Schnabel hochziehen und sie mit der Krallen immer wieder fixieren. Auch verstecke ich immer wieder Nüsse an den verschiedensten Stellen. Für sie ist jeden Tag Ostern.”

Foto: Anton Lichtenberger
Foto: Anton Lichtenberger

Durch die Zuneigung der Vögel auf meiner Terrasse habe ich dann bemerkt, dass ich auch in freier Natur eine Verbindung zu den Tieren herstellen kann. Aber die Krähen sind auch Gewohnheitstiere. Wenn ich einmal zwei Wochen nicht da bin, sind sie wieder sehr schüchtern und es dauert bis sie sich wieder was trauen.

Jeder kann eine Verbindung zu Tieren aufbauen.

Meine Freundin habe ich auch schon angesteckt. Auch sie hat schon einen gewissen Draht zu den Vögeln entwickelt. Ich denke, dass jeder eine Verbindung zu Tieren aufbauen kann, wenn er genügend Liebe für Tiere in sich trägt und Geduld aufbringt. Man muss halt in Kauf nehmen, dass einem im Winter die Finger abfrieren, aber das ist es wert.”

Einige Passanten, die an uns vorbeilaufen, beobachten das immer noch andauernde Vogel-Schauspiel. “Oft bleiben Leute stehen und sagen mir, wie toll das ist, was ich mache. Letztens habe ich einen Mann getroffen der meinte: ‘Mir ist es immer so vorgekommen, als würden die Raben hier sitzen und auf jemanden warten. Jetzt weiß ich, sie warten auf dich!’ Andere wiederum schütteln den Kopf. ‘Was macht der da mit diesen unnötigen Viechern?.’

Es gibt auch einige Ziehraben, die ich immer wieder besuche. Beispielsweise kenne ich eine Dame im Almtal, die ihre Doktorarbeit über Raben geschrieben hat. Bei ihr bin ich auch immer wieder, um Frau Kraxi und Herrn Arthur einen Besuch abzustatten. Da setzt sich dann auch schon mal ein riesiger Rabe auf meine Schulter.

In Haringsee, ungefähr 35km vor Wien, habe ich seit vorigem Sommer in der Greifvogelstation EGS eine Patenschaft für eine ganz besondere Krähe, Jakob. Die Freude ist beiderseits groß wenn ich zweimal im Monat zu Besuch komme. Dann hockt Jakob schon an der Volieretür und lässt sich, sobald ich eintrete, ebenfalls sofort auf meiner Schulter nieder.

„Die Liebe zu den Tieren hat dazu geführt, dass ich seit zwei Jahren als Vegetarier lebe. Tiere sind meine Freunde und meine Freunde esse ich nicht. Früher waren meine Lieblingstiere Kühe, doch das mit dem Auf-der-Schulter sitzen hätte mit denen nicht so gut geklappt.

Wir sind mittlerweile wieder in Antons Auto gestiegen, das zwischenzeitlich von einer der Krähen markiert wurde. Anton zeigt mir einige Fotobücher, die er selbst gestaltet hat. Eines beinhaltet “50 Kult-Kraxn”: alte, in den Hinterhöfen Österreichs versteckte Kultvehikel, die Anton bei seinen sommerlichen Radtouren fotografiert hat.

Das zweite Fotobuch handelt, wie sollte es anders sein, von den schwarzen Vögeln. “Ich habe meine Kamera immer auf der Couch liegen, somit bin ich stets bereit, die Krähen, die auf dem gegenüber liegenden Häuserdach ihre Späße treiben, vor die Linse zu bekommen. Sie lassen sich auf den Rauchfängen dieser alten Häuser nieder um auch sich auch im kalten Winter ihre Hintern aufzuwärmen.

Foto: Anton Lichtenberger
Foto: Anton Lichtenberger

Neben der Fotografie und der Liebe zu Tieren findet auch noch eine dritte Leidenschaft Platz im bewegten Leben des Anton Lichtenberger: “Radfahren ist mein Ausgleichssport. Ich fahre zwei bis dreimal die Woche dreißig Minuten mit dem Rad in die Arbeit. Erstens erspare ich mir zwei Tickets, und zweitens mache ich etwas für meinen Körper. Drittens treffe ich am Weg natürlich auf meine Krähen, also ein Gewinn auf ganzer Linie. Was das Radfahren anbelangt, bin ich ein Statistik-Fetischist. Seit 1996 führe ich Buch über meine Touren, notiere mir das Wetter, den Radtyp, die Kilometer, jede Ortschaft die ich passiere. Aktuell stehe ich bei Kilometerstand 58.000. Das heißt ich bin schon eineinhalb mal um die Erde gefahren. Im Schnitt fahre ich zwischen 3.000 und 6.000 km pro Jahr.

Auch habe ich mir voriges Jahr meine eigene Jahres-Fantasiestrecke kreiert: In meinem Kopf fahre ich jetzt jedes Jahr am 1. Jänner aufs neue vom Wiener Stephansplatz weg und mache mich auf den Weg über Italien und Frankreich bis nach Gibraltar. Ich addiere meine gefahrenen Kilometer, lege diese über meine Fantasiestrecke und komme somit immer ein Stückchen weiter auf meiner Route quer durch Europa.

Beispielsweise fahre ich in Wirklichkeit im Waldviertel spazieren, bin in meiner Fantasie aber schon bis nach Spanien gekommen. Meine Arbeitskollegen hören dann zum Beispiel: ‘Zehn Kilometer habe ich noch bis Valencia.’ Die wissen dann schon was Sache ist.”

Antons Fantasiestrecke reicht insgesamt 3.200 Kilometer weit. Irgendwann will er sie auch in Wirklichkeit abfahren. “Auch wenn ich die Strecke dann zum ersten Mal fahre, ist sie mir eigentlich gar nicht mehr so fremd.

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Es gibt da noch ein weiteres Foto-Projekt, welches ich seit einigen Jahren verfolge. Einmal im Jahr mache ich eine große Radtour über mehr als eine Woche, wie zum Beispiel ‚Wien-Salzburg-Wien‘ oder ‚Südtirol-Wien‘. Auf auf diesen Touren drücke ich den verschiedensten Menschen mein Rad für ein Foto in die Hand. Viele verschiedene Charaktere habe ich so schon abgelichtet. Vom Gärtner mit Strohhut, über eine Klosterschwester, einen Fleischer, einen super sympathischen Afrikaner mit bunten Klamotten bis zum Punker. Auch daraus soll demnächst ein Buch entstehen.

Als mich Anton nach einem großartigen Nachmittag am Nordsteg wieder zur U-Bahn bringt, fällt ihm am Weg noch eine Geschichte ein: “Eines morgens war ich am Weg zur Arbeit bereits sehr spät dran. Ich sagte mir: ‘Heute wirst du nicht pfeifen.’ Ich habe mich auf den Lenker gelegt und versucht unbemerkt die Brücke zu überqueren. ‘Vielleicht sehen sie mich nicht.’ Beinahe hätte ich es geschafft, unsichtbar zu bleiben, doch plötzlich stürzten drei Krähe aus dem Gebüsch, flogen unheimlich knapp über meinem Kopf und schrien lauthals. Dann bin ich doch zu spät gekommen. Mein Chef meinte nur: ‘Kein Problem. Ich weiß schon, deine Raben.’”

“Als Rabenvater kann ich ja meine Kinder nicht vernachlässigen.”

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2 replies on “Der Rabenvater”
  1. says: Robert KÖHLER

    TOLLE, INTERESSANTE STORY ÜBER DICH – WOBEI ICH SCHON EINIGES DARÜBER WUSSTE – DOCH EIN WENIG NEUES WAR FÜR DEINEN FREUND UND QUASI NACHBAR AUCH DABEI. GRATULATION DEM TEAM – HELDEN von HEUTE!

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